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Die soziale Sprengkraft des Vererbens

Nora Abdel-Maksouds „Jeeps“ am Essener Grillo


Nicht erst seit Thomas Pikettys 2013 erschienenem, viel beachtetem Manifest „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ wissen wir um die disparate Entwicklung von Kapital- und Arbeitseinkommen. Piketty analysiert, welche Konsequenzen die höheren Kapitalerträge für das Vererben von Vermögen haben und schlussfolgert, dass dieses zukünftig zu mehr Ungleichheit gegenüber den Beziehern von Arbeitseinkommen führt: „Die Vergangenheit frisst die Zukunft.“

Die Schauspielerin, Dramaturgin und Regisseurin Nora Abdel-Maksoud hat dieses Thema in ihrer Komödie „Jeeps“ verarbeitet und – mag es irrwitzig klingen – das Erbe direkt gnadenlos neu verteilt. „Tatort“ ist ein fiktives Jobcenter, der „Plot“, das materielle Erbe den Erben zu entziehen und es in einer Lotterie auf alle Menschen umzuverteilen. Abdel-Maksoud sprengt immer wieder den Rahmen des Fiktiven und liefert aufgrund intensiver Recherche die Zahlen: Geschätzte 500 Milliarden Euro werden jährlich in Deutschland vererbt, jeder sechste Essener lebt von und mit Sozialleistungen. Will es keiner hören?

Das Bühnenbild, gestaltet von Thomas Dreissigacker, trennt schlicht die Wartehalle A der enteigneten Erben von der Halle B mit der Neuvergabe qua Lotterie. Beide Seiten befinden sich auf der Drehbühne, sodass die Perspektivwechsel ohne Spielunterbrechung vorgenommen werden können. So einfach und klar das Bühnenbild, so widersprüchlich sind die vier auf der Bühne Agierenden. Mansur Ajang in der Rolle des Jobcentermitarbeiters Armin fühlt sich als der Chef, was er wohl nicht ist, und präsentiert sich reichlich tuntig an der Bühnenrampe. Sein jüngerer Kollege Gabor, exzellent gespielt von Christopher Heisler, gibt sich bürokratisch-unbestechlich und ist für die Verlosung zuständig. Und dann sind da noch die beiden „Kundinnen“ (in Jobcenter-Sprache) Maude (fulminant Floriane Kleinpass) und Silke (Bettina Engelhardt, bereits von 2005 bis 2010 Ensemblemitglied am Grillo). Mit den beiden scheinen die Antipoden gesetzt zu sein, die enterbte Silke und die Bürgergeld-empfängerin Maude („Pfand für gesammelte Flaschen wird als zusätzliches Einkommen berücksichtigt“). In einer Backgroundstory erfahren wir von der Start-Upperin Silke, dass auch sie früher als Rucksackreisende mit Kellner und Callcenterarbeit ihren Lebensunterhalt verdient hat, Maude ist nicht nur Flaschensammlerin, die dazu mit ihrer Pistole herumfuchtelt, sondern auch elegante Privilegierte mit Sonnenbrille und Fönfrisur, die eigentlich langzeitarbeitslose Schriftstellerin ist. Bevor man für irgendjemand Partei ergreifen kann: Altruismus und Egoismus sind nicht so einfach zuzuordnen. Warum eigentlich der Stückname „Jeeps“? Weil es ein Synonym für Gabors Geländewagen ist, auf den er 13 Jahre gespart hat. Ein Geländewagen eines Sachbearbeiters im Jobcenter, das dekadenteste Statussymbol in einer Großstadt in der Zeit der Klimakrise!

Das vermeintlich Disparate gehört zu Abdel-Maksouds Text und Regisseur Rafael Sanchez‘ Dialektik. Beide lassen die Figuren ihre Sätze einander entgegenschleudern, mal ernsthaft, dann wieder krawallig bis klamaukhaft. Witze (Klein-Penis-Witze über Männer mit zu großen „Jeeps“) und Ernst („Eierstocklotterie“, hier wohl nicht witzig gemeint) prallen unvermittelt aufeinander. Das alles funktioniert nicht durch aufwendige Kulisse und Effekte, sondern durch eine perfekt getaktete Sprache, die das Publikum immer wieder herausfordert. Sachkundige Informationen zu Grundsicherung und Bürgergeld prallen auf unerwartete Wendungen, wenn Gabors Jeep gesprengt oder die Losziehung manipuliert wird. Am Ende gewinnt keiner von den Vieren. Die „Erbreform“ mithilfe einer Lotterie wird zur Realsatire, die Utopie zur Dystopie. Geburtslotterie und Neuverteilungslotterie werden nicht dauerhaft funktionieren. Trotz der verstörenden, aber geplanten Brüche kann die grundsätzliche Idee der Inszenierung aufgehen, die Frage nach einer gerechteren Verteilung von Kapital- und Arbeitserträgen offen zu halten. Eine gerechtere Gesellschaftsordnung ist aber noch nicht gefunden. Auch wenn manches in dieser Inszenierung zu plump oder ideologisch überfrachtet daherkommt, dann bleibt die Sprengkraft eines Themas, das Antwort verlangt.
So darf man wieder auf Brechts "Der gute Mensch von Sezuan" zurückgreifen, wenn es angesichts des Unfertigen so schön am Schluss heißt: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen."
Rainer Hogrebe

Jeeps | © Nils Heck

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